DE
Ich drücke mich durch die Menge, vorbei an Zombies, Wassernymphen,
ziemlich vielen Vampiren und dem blutüberströmten Anhänger einer apokalyptischen
Sekte. The end is near. Es ist Halloween 2019. Die Treppe hoch, an dem Ort, an
dem sich sonst vielleicht die Küche befindet, taucht vor mir eine Person auf, in
High Heels, grauem Zweiteiler, korallenrote Pagenperücke und dazu die zwei
riesigen, langen, spitzen, scharfen Scherenhände einer Krabbe. Aus dem
schuppigen Panzergesicht lächeln mich gelbe Augen an. Dass sich da drinnen
irgendwo Jonathan versteckt, ist mir nicht gleich klar. Aber freundlich ist sie
sofort sehr, die Business-Krabbe, also Corporate Crab, klippklapp, warme
Umarmung, nice to see you, too! Ich glaube, wir alle waren bisschen verliebt in
Corporate Crab, oder zumindest extrem hingerissen. Oh hi hello, Jonathan! Im
November 2021 tauchen im Haus der Kunst noch mehr von Jonathans Krabbenwesen
auf. In Zusammenarbeit mit Charlotte Simon und Toben Piel von Les Trucs, sowie
Lisa Schöttl und Jakob Penca entstand das Performance-Environment Kreb Core
Cargo.1 Es geht um die fiktive Verkrabbung menschlicher Körper. »So
it seems to be of evolutionary interest to be shaped like a crab.« Mithilfe von
Kostümen, Pappkartonkulissen, Keramiken, Songs und Bildern spielt sich diese
Verwandlung entlang eines Laufstegs ab. Wobei der Laufsteg hier auch die
Lagerhalle eines ominösen Fischereikonzerns ist, deren ausgemergelte
Mitarbeiter*innen nichts mehr zu tun haben, weil nichts mehr zu fischen übrig
ist. Gemeinsam träumen sie von tieferen Gewässern und prähistorischen Meeren um
sich der kommerziellen Einverleibung zu entziehen. Jonathan quert ständig die
Grenzen zwischen den Spezies und Genres, zwischen Forschung und Kunst, zwischen
Performance und Privatleben, und zwar auf eine, wie ich finde, sehr sorgende und
freudvolle Art. »Kostüm für Halloween« und »Kunst für die Galerie« sind dann als
Kategorien gar nicht mehr so wichtig. Jonathans bildliches oder ganz praktisches
Hineinschlüpfen in verschiedene Tierhüllen macht uns Betrachter*innen seine
Liebe für Lebewesen zugänglich, die sonst von uns Menschen gerne übersehen
werden, weil sie klein sind, weil sie unscheinbar sind, weil sie unwichtig
erscheinen.
Als Soundkünstlerin spürt Anna verschütteten,
verschwundenen und verlorenen Sounds nach. Dass das unweigerlich auch eng mit
ihrer Praxis als DJ und Musikerin verbunden ist, wird an ihrem Projekt Echoes
from the Club (2021) deutlich. Dafür nahm sie Field Recordings im Offenbacher
Techno-Club Robert Johnson auf, als der während der Corona-Pandemie leer stand.
Die Ergebnisse bewegen sich auf drei unterschiedlichen Ebenen: einerseits gibt
es Aufnahmen wie Whining Terrace Door, die Geräusche dokumentieren, die sich so
isoliert und deutlich nur außerhalb vom regulären Betrieb ausfindig machen
lassen. Bei anderen Tracks handelt es sich um Samples, die Anna im leeren Club
über das Soundsystem abgespielt und erneut aufgezeichnet hat. Und dann ist da
noch eine Reihe abstrahierter Loops, die sie im Nachgang aus diesen
unterschiedlichen Klängen konstruiert hat. Persönliche Erinnerungen verwoben mit
Spuren aus der materiellen Wirklichkeit. Alle diese Tracks haben eines
gemeinsam: einen – wie Anna das beschreibt – »kahlen Hall«, der entsteht, wenn
die Schall absorbierenden Körper der Menschen auf der Tanzfläche fehlen. Anna
hat Echoes from the Club als Sample Pack zugänglich gemacht.2 Die
einzelnen meist nur ein bis drei Sekunden langen Samples, können also wieder von
anderen Musiker*innen verwendet werden, um daraus neue Tracks für volle Clubs zu
bauen. So wie hier das leere Robert Johnson zum Protagonisten wird, belebt Anna
in ihrer Soundinstallation Lockrop (2021) einen Garten in Frankfurt.3
Dafür hat sie sich mit traditionellen, skandinavischen Musikformen beschäftigt,
insbesondere Klängen und Instrumenten, die genutzt werden, um Tiere, Geister und
mythologische Wesen abzuwehren oder anzulocken. Ich glaube, ein Glockenspiel
oder ein Metallophon zu hören. Darunter liegt ein heller, brüchiger Flötenton,
der immer wieder versucht, sich an die Oberfläche zu schieben. Im überwucherten
Dickicht verborgen, beobachten die Lautsprecher die hypnotisierten
Besucher*innen…
An einem Januarmorgen führt Herr Nose Anna, Jonathan
und mich durch die Bestände der Bayerischen Staatssammlung für Paläontologie und
Geologie. Martin Nose ist dort als Oberkonservator vor allem für die fossilen
Wirbellosen wie Schwämme, Korallen, Moostierchen und Armfüßer zuständig. Er
öffnet unzählige Schubladen, Setzkästen und Fächer für uns, in denen die
Fossilien lagern. Da gibt es zum Beispiel eine Koralle, die aussieht wie ein
seltsames Kuhhorn: Sie gehört zu den Runzelkorallen (Rugosa), einer Gruppe schon
lange ausgestorbener Korallenarten. Sie lebten häufig in Kolonien und zählen zu
den ersten riffbildenden Blumentierarten überhaupt. Ihre Skelette zeigen
teilweise zyklische Wachstumsringe, die darauf hinweisen, dass sich die Erde zu
ihren Lebzeiten wohl schneller gedreht hat als heute. Das bedeutet, dass die
Tage, die die Rugosa verbracht haben, kürzer waren als die meinen und ein Jahr
fast 400 Tage hatte. Die Calceola sandalina (Pantoffelkoralle), die jetzt in
Herrn Noses Handfläche liegt, ist auch eine Rugosa, hat aber keine Riffe gebaut.
Sie sieht wie ein kleiner, spitz zulaufender Hausschuh aus. Auf der platten
Seite am weichen Meeresgrund liegend, wurde sie von der Strömung umspült und mit
Nahrung versorgt. Einen Brachiopoden (Armfüßer) in einer Plexiglasschachtel
halte ich auf den ersten Blick für eine Muschel, wäre da nicht das spiralförmige
Gebilde im Inneren, das aus der leicht geöffneten Schale lugt. Herr Nose
erzählt, dass sich außen an der Schale mal ein Stiel befand, mit dem sich der
Armfüßer am Untergrund festklammerte. Alle diese Tiere können sich nicht oder
nur sehr eingeschränkt aus eigenem Antrieb bewegen. Fachsprachlich wird das
sessil genannt, ein Leben im Sitzen. Die fossilen Wirbellosen erzählen dieses
als Spektrum: es gibt unter den sessilen Lifestyles unter Anderem den der
liberosessilen Tiere, die frei am Meeresboden liegen, der hemisessilen, die nur
einen Teil ihres Lebens festgewachsen verbringen oder der rhizosessilen, die
wurzelartige Ausläufer ausbilden, mit denen sie im weichem Sediment Halt finden.
Für ihre Ruine widmen sich Anna und Jonathan genau diesen zart fluiden
hart weichen unscheinbaren komplexen festsitzenden (oder eben nicht) Lebewesen
der Vorzeit. Jonathans minimalfarbene Zeichnungen von Brachiopoden, Rugosa,
Fleshy Time Slippers und Annas eigens komponierte Synthesizer-Soundscape lassen
uns in eine fiktive Gegenwart längst vergangener Lebensformen eintauchen. Das
sessile Leben, das ich mir immer arg gemächlich vorstelle, wird aufregend. In
Jonathans Zeichnung hat sich die Schale des Armfüßers geschlossen. Im Portrait
des fossilen Wesens schimmert ein Raumschiff durch, das im Begriff ist
abzuheben. Dazu reibt und kratzt Annas futuristischer Soundtrack, statt
Triebwerken wummern tiefe Bässe. Steinbrocken gleiten an mir vorbei, die über
und über mit seltsamen Zeichen bedeckt sind – gefäßartige Netze, gezackte
Spiralen. An den Zweigen sessiler Polypen wachsen unzählige Medusen. Zu Sonden
gereift, docken sie ab und begeben sich auf ihre Reise ohne Rückkehr. Sie haben
kein Problem mit Überfischung oder der Erwärmung der Meere. Anders die Korallen.
Der Mensch errichtet jetzt gitterartige Korallenbaumschulen, um das
Korallensterben abzumildern.4 Die Musik schwillt jetzt wieder an.
Zeit oszilliert psychedelische Wellen in mein zeitgenössisches Ohr, ich sehe im
Klang von schnellen Hi-Hats die Sonne vorbeirasen, eine Sonne von vor hunderten
Millionen von Jahren, die gleiche Sonne wie jetzt, wie sie strahlt auf die Erde
runter. Wir bewegen uns gemeinsam oder sitzen fest, und treiben dann wieder
davon, am gewundenen Geländer der Jahrmillionen.
(Ruine München, Mai 2023)
1
https://www.youtube.com/watch?v=o2BFj6WClI4
2
https://annahjalmarsson.bandcamp.com/album/echoes-from-the-club
3 https://kvtv.studio/en/home/oade-4-anna-hjalmarsson-lockrop
4 https://mote.org/locations/details/international-center-for-coral-reef-research-and-restoration
Die in Frankfurt lebende Anna Hjalmarsson, mit schwedischen
sowie norwegischen Wurzeln, arbeitet mit Komposition, Sounddesign und als DJ.
Hjalmarsson, die aus dem Punk und der experimentellen Musik kommt, arbeitet in
ihren künstlerischen und poetischen Annäherungen mit einem Soundwork, das in
ständigem Austausch mit den Erinnerungen und alltäglichen Mythologien steht. Das
Aufspüren und Heraufbeschwören von verschütteten, verschwundenen und verlorenen
Sounds ist eine wiederkehrende Ressource ihrer Arbeit, die persönliche
Erinnerung mit der materiellen Wirklichkeit verwebt.
Jonathan Penca
arbeitet in den Medien Zeichnung, Skulptur, Performance und Video. Sein
Interesse an Bühnen- und Kostümbild und Dramaturgie spiegelt sich in seiner
künstlerischen Praxis wider, in der er die Grenzen zwischen Realität und
Inszenierung verhandelt. Themen aus Naturwissenschaft, Popkultur und Science
Fiction bilden die Grundlage für Pencas Arbeit. Mit ihrer Hilfe lotet er das
Verhältnis queerer und nicht eindeutig festgelegter Körperinszenierungen als
widersetzlichen Moment zwischen gesellschaftlichen Normierungsversuchen und
individueller Identitätssuche aus.
EN
I
push my way through the crowd, past zombies, water nymphs, quite a few vampires
and the blood-drenched follower of an apocalyptic cult. The end is near. It’s
Halloween, 2019. Up the stairs, where the kitchen might otherwise be, a person
appears before me, in high heels, a grey two-piece, coral pageboy wig, and two
huge, long, pointed, sharp scissor hands of a crab. Yellow eyes smile out at me
from the scaly armour. I don’t immediately realise that somewhere in there
Jonathan is hiding. But the Corporate Crab is very friendly right away,
clip-clop, warm hug, nice to see you, too! I think we were all a bit in love
with Corporate Crab, or at least extremely smitten. Oh hi, hello, Jonathan!
More of Jonathan’s crab creatures popped up at Haus der Kunst in November
2021. In collaboration with Charlotte Simon and Toben Piel from Les Trucs, as
well as Lisa Schöttl and Jakob Penca, Jonathan created the performance
installation Kreb Core Cargo.1 It was about the fictional
carcinisation of human bodies. “It seems to be of evolutionary interest to be
shaped like a crab.” With the help of costumes, cardboard backdrops, ceramics,
songs and images, the metamorphosis plays out along a runway. The runway here is
also the warehouse of an ominous fishing company whose emaciated employees have
nothing left to do because there is nothing left to fish. Together they dream of
deeper waters and prehistoric seas to escape commercial incorporation.
Jonathan constantly traverses the boundaries between species and genres,
research and art, performance and private life, in what feels to be a caring and
joyful approach. ‘A Costume for Halloween’ and ‘art for the gallery’ are not
such important categories anymore. When Jonathan metaphorically or physically
slips into various animal shells, he invites his viewers to partake in his love
of creatures often overlooked by us humans because they are small, because they
are inconspicuous, because they seem unimportant.
As a sound artist,
Anna traces buried, disappeared and lost sounds. In her project Echoes from the
Club (2021), it becomes clear that these interests are inevitably closely linked
to her practice as a DJ and musician. For this, she took field recordings in the
Offenbach techno club, Robert Johnson, when it was empty during the Corona
pandemic. The results play out on three different levels; firstly, there are
recordings like Whining Terrace Door, that document sounds only encountered in
such isolation, outside of the club’s regular operations. Other tracks are
samples that Anna played through the sound system in the empty club,
re-recording them. Finally, there’s a series of abstracted loops she constructed
in post-production from these disparate sounds. Personal memories interwoven
with traces of material reality. All of these tracks have one thing in common,
what Anna describes as a “bare reverb”, created in the absence of the
sound-absorbing bodies of people on the dance floor. Anna has made Echoes from
the Club accessible as a sample pack.2 The individual samples,
usually only one to three seconds long, can thus be reused by other musicians to
build new tracks for full clubs.
Just as an empty Robert Johnson
becomes the protagonist in Echoes from the Club, an animated garden in Frankfurt
became the subject in her sound installation, Lockrop, from 2021.3
For this work, she looked at traditional, Scandinavian musical forms,
particularly sounds and instruments used to deter or attract animals, spirits,
and mythological beings. I believe I hear a glockenspiel or a metallophone.
Underneath is a bright, brittle flute sound that keeps trying to push its way to
the surface. Hidden in the overgrown thicket, the speakers watch the hypnotised
visitors....
On a January morning, Mr. Nose leads Anna, Jonathan and
me through the Bavarian State Collection of Paleontology and Geology. As one of
the head conservators, he is primarily responsible for fossil invertebrates such
as sponges, corals, bryozoa and brachiopods. He opens innumerable drawers, boxes
and compartments for us that store the fossils. There is a coral that looks like
a strange cow horn, belonging to wrinkled corals (Rugosa), a group of coral
species that have long been extinct. They often lived in colonies and were among
the very first reef-building floral species. Their skeletons sometimes show
cyclic growth rings, indicating that the Earth probably rotated faster during
their lifetime than it does today. This means that rugosa’s days were shorter
than mine, and a year had nearly 400 days. The Calceola sandalina now in Mr.
Nose’s palm is also a rugosa, but it did not form reefs. It looks like a small,
pointed slipper. Lying on its flat side on the soft seabed, the surrounding
current supplied it with food.
At first glance, I think a brachiopod
in a plexiglas box is a clam, if it wasn’t for the spiral-shaped structure
peeking out of the slightly open shell. Mr. Nose tells us that there used to be
a stalk on the outside of the shell that it used to cling to the substrate.
All of these animals cannot move of their own accord, or only to a very
limited extent. In technical language, this is called sessile, a life of
sitting. For fossil invertebrates, this exists across a spectrum: among the
sessile lifestyles, there are, among others, liberosessile animals, which lie
freely on the seafloor, the hemisessile, which spend only a part of their life
firmly attached to another substrate, or the rhizosessile, which form root-like
runners to hold themselves in the soft sediment.
For their Ruine, Anna
and Jonathan devote themselves precisely to these delicately fluid, hard, soft,
inconspicuous and complex sessile (or not) creatures of prehistory. Jonathan’s
minimally coloured drawings of brachiopods, rugosa and fleshy time slippers and
Anna’s newly composed synth soundscape immerse us in a fictional present of
long-gone life forms. Suddenly sessile life, which I always imagine to be
somewhat leisurely, becomes exciting. In Jonathan’s drawing, the shell of the
brachiopod has closed. In the portrait of the fossil, I see a spaceship, about
to take off. Anna’s futuristic soundtrack rubs and scrapes along with it,
instead of engines, deep basses rumble. Chunks of stone glide past me, covered
all over with strange signs – vascular nets, jagged spirals. Countless medusae
grow on the branches of sessile polyps. Matured into probes, they undock and set
off on their journey of no return. They thrive from the effects of ocean
warming. The situation is completely different for the corals. Today
lattice-like coral nurseries are built to mitigate coral dieback.4 I
wonder what the future holds for them. The music swells. Time oscillates
psychedelic waves into my contemporary ear. In the sound of fast hi-hats, I see
the sun rushing by, a sun from hundreds of millions of years ago, the same sun
as now, as it beats down upon the earth. We move together, or sit tight, and
then drift away again, on the winding railing of millions of years.
(Ruine München, May 2023)
1
https://www.youtube.com/watch?v=o2BFj6WClI4
2
https://annahjalmarsson.bandcamp.com/album/echoes-from-the-club
3 https://kvtv.studio/en/home/oade-4-anna-hjalmarsson-lockrop
4 https://mote.org/locations/details/international-center-for-coral-reef-research-and-restoration
Anna Hjalmarsson is a Swedish sound
artist based in Stockholm and Frankfurt am Main. Her work with composition and
sound design is grounded in a broad practice of artistic research. Coming from a
background of punk and experimental music, in the last years Anna Hjalmarsson
has established a decisive practice as a techno musician and DJ that is deeply
bound to her artistic practice.
Jonathan
Penca works in the media of drawing, sculpture, performance, and video.
His interest in stage and costume design and dramaturgy is reflected in an
artistic practice that negotiates the boundaries between reality and staging.
Themes from natural science, pop culture, and science fiction are the basis for
Penca’s work. With them he explores the relationship of queer and ambiguously
defined representations of the body as a moment of resistance between societal
efforts at standardisation and the individual search for identity.
